Wer erntet die gebana Orangen?
Jedes Jahr verschicken wir hunderttausende Kilo handgeerntete Orangen aus Griechenland. Ein System zu entwickeln, das dabei korrekte Arbeitsbedingungen für die Erntehelfer:innen garantiert, ist nicht einfach.
Wer professionell Früchte oder Gemüse erntet, hat wenig zu lachen. Egal wohin man blickt, die Menschen, die dieser Arbeit nachgehen, tun dies oftmals unter unvorstellbaren, menschenverachtenden Bedingungen. Denn die Landwirtschaft ist der wilde Westen der Lebensmittelindustrie. Hier gilt einzig das Gesetz des Stärkeren.
Wohin diese Anarchie führt, hört und sieht man immer wieder in den Medien. Beim Infosperber konnte man 2022 über "schockierende Arbeitsbedingungen in Schweizer Bauernbetrieben" lesen. Im Februar 2023 berichtete die Süddeutsche Zeitung unter dem Titel "Zahnschmerzen, Lohndumping und Kakerlaken" über die schlimmen Arbeitsbedingungen osteuropäischer Arbeiter:innen in der deutschen Landwirtschaft.
Das SRF brachte im Juni 2024 die Reportage "Bittere Früchte – Ausbeutung auf Europas Feldern" – eine Kurzfassung der Dokumentation "The Pickers" – und zeigte darin die moderne Sklaverei mitten in Europa – sehr sehenswert, jedoch kaum ertragbar. Und wozu all das Leid? Weil Früchte und Gemüse möglichst billig sein müssen.
Wie läuft es also bei der Ernte der Orangen von gebana ab? Nun, auch in Griechenland ist die Situation alles andere als einfach.
Griechenland formalisiert die Landarbeit
Seit 2013 importieren wir Orangen aus Griechenland. Knapp 26'000 Kilo waren es im ersten Jahr. "Damals mussten wir nur in bestimmten Wochen Orangen an gebana liefern", sagt Raphael Sacher, Verwaltungsratspräsident unseres Partners Anyfion. "Die Ernte war nicht straff organisiert."
Da unser Fokus in dieser Anfangszeit auf Qualität und Logistik lag, nahmen weder wir noch Anyfion direkten Einfluss auf die Ernte oder die Arbeitsbedingungen der Erntehelfer:innen. Die Bauernfamilien machten, was alle Landwirte machten in Griechenland: Täglich Arbeiter:innen anheuern, ohne allzu viele Fragen zu stellen.
Das änderte sich, als Griechenland im Jahr 2017 ein auf Coupons basiertes Bezahlsystem für Land- und Gelegenheitsarbeiter:innen einführte. Das System heisst Ergosimo (Εργόσημο) und soll Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft niederschwellig formalisieren, Zahlungen vereinfachen, die Arbeiter:innen absichern und Schwarzarbeit verhindern.
Kurz erklärt funktioniert es so: Die Bäuerin oder der Bauer kauft die Coupons bei der Post oder seiner Bank – online oder in einer Filiale – versieht diese mit Namen und Sozialversicherungsnummer der Arbeiter:innen und händigt sie ihnen nach getaner Arbeit aus. Die Arbeiter:innen gehen mit dem Coupon wiederum zur Post oder Bank – ebenfalls online möglich – und erhalten ihren Lohn abzüglich der Sozialabgaben (10 Prozent).
Auch das beste System lässt sich umgehen
Trotz guter Absichten, kam und kommt es auch in diesem System zu Missbrauch. Denn es funktioniert natürlich nur, wenn ein:e Arbeiter:in eine Sozialversicherungsnummer hat. Illegale Arbeitskräfte – Migrant:innen ohne Papiere – haben aber keine. Die "Lösung" ist, dass aus einer Gruppe von Erntehelfer:innen jeweils eine Person mit Sozialversicherungsnummer das Geld für die ganze Gruppe per Coupon einzieht. Wie das Geld nachher verteilt wird, bleibt dabei intransparent.
Wegen dieser Intransparenz startete Anyfion 2019 einen ersten Versuch mit einer eigenen Gruppe an Erntehelfer:innen. Statt dass die Bauernfamilien die Helfer:innen rekrutieren, sollte diese Gruppe von Hof zu Hof ziehen und ernten. Ein externer Gruppenleiter führte und koordinierte die Gruppe, bezahlt wurden die Arbeiter:innen weiterhin durch die Bauernfamilien, für die sie arbeiteten. Neben dieser Gruppe waren aber weiterhin je nach Erntesituation zusätzlich täglich angeheuerte Helfer:innen im Einsatz.
Für einheimische Arbeitskräfte ist die Arbeit zu schwer
Ein Jahr später wollte Anyfion das System weiterentwickeln, indem das Unternehmen eine Erntegruppe selbst anstellte. Diese Helfer:innen zahlte Anyfion immer noch auf täglicher Basis, aber koordinierte alles selbst. Dieser Ansatz sollte mehr Kontrolle bringen, musste aber nach zwei Wochen wieder abgebrochen werden.
"Unsere grösste Herausforderung war hier die Rekrutierung, weil kaum noch Wanderarbeiter:innen nach Griechenland kommen", sagt Raphael Sacher. "Wir versuchten es deshalb mit Einheimischen, doch die waren der körperlich fordernden Arbeit nicht gewachsen und brachten nicht die erforderliche Leistung."
Das Grundproblem, das hier zugrunde liegt: Die griechische Landwirtschaft ist nicht mehr attraktiv genug für europäische Arbeitskräfte, die Löhne sind tiefer als zum Beispiel in Deutschland oder Italien. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Griechenland hauptsächlich in die Balkanstaaten exportiert.
Also hiess es einen Schritt zurück zu Gruppen, die von externen Gruppenleitern koordiniert werden.
2020 definierten wir die Verbesserung der Situation der Erntehelfer:innen gemeinsam mit Anyfion als eine unserer Prioritäten für Griechenland. Seither nähern wir uns jedes Jahr unserem Wunschzustand weiter an: bessere Verträge, möglichst viele Festanstellungen statt Tagelöhner sowie mehr Übersicht über die Wohnsituation, Verpflegung, allfällige Ausnutzung und Illegalität.
Neu arbeiten fünf geflüchtete Menschen in den Orangenhainen
Für die Saison 2024/2025 hat Anyfion in dieser Hinsicht nun einen Sprung nach vorn gemacht. Um das sich noch weiter verschärfte Problem des Arbeitskräftemangels zu lösen, entwickelte das Team vor Ort gemeinsam mit der NGO Metadrasi und der Firma Workland ein Pilotprojekt, um legal Migrant:innen ohne Papiere anzustellen. Metadrasi kümmerte sich dabei um die Rekrutierung in den Flüchtlingscamps, Workland wickelte die administrativen Formalitäten ab.
Mit der Unterstützung der beiden Organisationen konnte Anyfion für die Saison 2024/25 fünf Männer aus Syrien und einen aus Palästina anstellen – letzterer hat die Gruppe inzwischen aus eigenem Willen verlassen.

Der Anstellungsprozess dauerte etwa eineinhalb Monate. Die grössten Hürden waren die Beschaffung gültiger Papiere und die Bankkonten für die Flüchtlinge. Doch am Ende klappte alles. Ihre Anstellungsbedingungen sehen folgendermassen aus:
- Saisonvertrag mit 6-Tage-Woche und festen Arbeitszeiten
- 820 Euro Fixlohn pro Monat, inklusive Sozial- und Krankenversicherung
- Kostenlose Arbeitskleidung
- Kostenloses Wohnen in einem von Anyfion frisch renovierten Haus
- Kostenloser Internetzugang im Haus
- Fahrrad für Ausflüge oder zum Einkaufen
- Kostenloser Griechischunterricht, wenn sie möchten
Obwohl diese Bedingungen selbstverständlich klingen, sind sie für Griechenland, für Europa revolutionär. Insbesondere der feste Saisonvertrag mit Fixlohn, wie Raphael Sacher sagt. "Das macht sonst keine Firma in der Branche."
Die fünf Männer sind sehr zufrieden, wie sie sagen. "Anyfion behandelt uns als Freunde, nicht als Angestellte eines Unternehmens. Als wir ankamen, versorgten sie uns mit Essen und Kleidung, weil wir keine hatten. Sie übernahmen sogar unsere Reisekosten. Dafür danken wir ihnen", sagt Aamer Mohammad Mansour stellvertretend für alle. "Wir würden gerne im nächsten Jahr wieder für Anyfion arbeiten. Wir haben hier unser zweites Zuhause gefunden, ein sicheres Umfeld und eine gute Behandlung."
Die eingeschlagene Richtung weitergehen
Die fünf ernten in dieser Saison knapp 10 Prozent all unserer Orangen – inzwischen verschicken wir pro Saison über 1.5 Millionen Kilo Orangen. Bei diesen Mengen reicht eine Gruppe von fünf Männern schlicht nicht aus. Rund 63 Prozent der Früchte werden deshalb weiterhin durch von Anyfion koordinierte Gruppen geerntet, die nicht fest angestellt sind, sondern täglich via Coupons direkt von den Bauernfamilien bezahlt werden. Das Geld für die Coupons legt Anyfion vor und verrechnet es am Ende der abgelieferten Ernte.
Die restlichen rund 27 Prozent fallen vor allem auf einen sehr grossen Betrieb, der seine eigene Erntegruppe hat sowie auf einige sehr kleine Produzent:innen.
Griechenland hat jüngst Änderungen am Steuersystem vorgenommen, die das Problem rund um die Arbeitsbedingungen der Landarbeiter:innen wohl verschärfen werden: Seit 2025 müssen Arbeiter:innen in der Landwirtschaft ihr Einkommen versteuern.
Wer Coupons bei der Bank einlösen will, braucht nun ein Bankkonto. Bei der Post geht es noch ohne. Da aber auch in Griechenland immer mehr Postfilialen geschlossen werden, ist der Andrang bei den verbliebenen Stellen immens. Das System kommt an seine Grenzen. Anyfion rechnet deshalb damit, dass es zu einem Revival der direkten Bezahlung mit Bargeld kommen und somit wieder mehr Schwarzarbeit geben wird.
Diese Entwicklung bestärkt Anyfion, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Das Team vor Ort plant, in der nächsten Saison die Migrant:innengruppe mindestens zu verdoppeln. Denn auch wenn es Anfangs einige Effizienzprobleme gab: Der Ansatz bringt die gewünschte Kontrolle über die Arbeitsbedingungen der Erntehelfer:innen und ist ein Ausweg aus dem akuten Mangel an Arbeitskräften. Gleichzeitig erhalten Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, eine Chance in Europa.
Verwendete Quellen
Zahnschmerzen, Lohndumping und Kakerlaken, Süddeutsche Zeitung (abgerufen am 6.1.2025)
Bittere Früchte – Ausbeutung auf Europas Feldern, SRF (abgerufen am 6.1.2025)
Schockierende Arbeitsbedingungen in Schweizer Bauernbetrieben, Infosperber (abgerufen am 6.1.2025)
Erntehelfer gesucht: Melonis Italien praktiziert eine zweischneidige Einwanderungspolitik, NZZ (abgerufen am 6.1.2025)
Nur Gutes aus der Region? Die Krux mit den Lebensmitteln von nebenan, Geschichte der Gegenwart (abgerufen am 6.1.2025)
Bittere Bedingungen für Erntehelfer, Bauernzeitung (abgerufen am 6.1.2025)